Der vielseitig begabe und über hohes Organisationstalent verfügende Architekt Otakar Novotný besuchte eine höhere technische Lehranstalt und erhielt seine praktische Ausbildung vom tschechischen Architekten Josef Schulz. In den Jahren 190–01903 studierte er Architektur an der Akademie für Kunst, Architektur und Design bei Jan Kotěra. Für Novotný war dessen Auffassung moderner Architektur so bestimmend, dass er nach Studienabschluss als Angestellter in Kotěras Aterlier arbeitete, wo er von Juni 1903 bis Juli 1904 tätig war. Seinen Memoiren zufolge übernahm Novotný bei Kotěra in den Jahren 1903/1904 die Realisierung des Hauses der Kreisvertretung (Okresní dům) in Hradec Králové, denn Kotěra arbeitete zu jener Zeit an einem staatlichen Auftrag, nämlich dem Pavillon für die Weltausstellung in St. Louis in den Vereinigten Staaten. Nachdem Novotný Kotěras Atelier verlassen hatte, arbeitete er an eigenen Projekten und wirkte als Pädagoge. 1906–1909 gab er am Prager Kunstgewerbemuseum Abendkurse in Zeichnen, in den Jahren 1912–1914 an der höheren Mädchenschule. Nach Kotěras Tod im Jahr 1923 übernahm er kurzfristig dessen Spezialstudienrichtung für Architektur an der Prager Akademie der Bildenden Künste, 1929–1941 unterrichtete er schließlich an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag, wo er auch Rektor wurde (1935 und 1937). Außerdem war er als Redakteur der Architekturrubrik der Zeitschrift Styl (dt. Stil) tätig, in der zahlreiche seiner Publikationen erschienen. Er verfasste Artikel über Normierung von Formen, in denen er Prinzipien des europäischen Modernismus propagierte: Charakter zahrady (dt. Der Charakter des Gartens) oder Interiér, architekt a obecenstvo (dt. Das Interieur, der Architekt und das Publikum) – beide 1909 – und Architektonický impresionismus (dt. Architektonischer Impressionismus), Tvoření formy v architektuře (dt. Die Herausbildung von Form in der Architektur) – beide 1912. Kurz vor seinem Tod publizierte er die erste kritische Monographie zu Jan Kotěra, sie trägt den Titel Jan Kotěra a jeho doba (dt. Jan Kotěra und seine Zeit), in der eine unvoreingenommene Interpretation von Kotěras Bauten im breiteren europäischen Kontext mit ganz persönlichen Erinnerungen an den Architekten und an weitere Vertreter der tschechischen Moderne verbunden werden. Im Jahr 1959 erschien eine Auswahl von Novotnýs Texten unter dem Titel O architektuře (dt. Über Architektur), posthum veröffentlichte das Kunstgewerbemuseum Prag im Jahr 1984 eine weitere Textsammlung. [1]
Novotnýs Werk kann als persönlich Synthese der progressivsten Formen des Modernismus und traditioneller konservativer Elemente betrachtet werden. Davon zeugen sowohl das Gebäude der Sokol-Turnhalle als auch das Haus von Čeněk Zemánek in Holice, in dem Sichtmauerwerk und nach hinten versetzte Laibung nach dem Vorbild Kotěras zu finden sind, aber auch klassische Bögen, Pedimente oder Fialen, die man aus der älteren Architektur kennt. Novotnýs Konservatismus zeigte sich am stärksten in der Realisierungen bourgeoiser Interieurs und Villen, beispielsweise ist die Villa von Jan Otta in Zbraslav bei Prag ein persönliches Beispiel für moderne Barockarchitektur. Nach dem ersten Weltkrieg war Novotný der kubistischen Architektur zugeneigt, insbesondere was die Fassaden der Bauwerke betraf.
Realisiert wurde dieses Interesse bei den Genossenschaftshäusern in der südmährischen Stadt Znaim (Zojmo) und vor allem bei den sog. Lehrerhäusern in der Prager Altstadt (Adresse: Elišky Krásnohorské 123). Novotnýs kurzes Interesse für expressionistische Fassadengestaltung ist bei den Lehrerhäusern in der Kamenická-Straße in Prag zu finden. Mitte der 20er Jahre entwickelte Novotný Interesse an der architektonischen Avantgarde, das sich am 1927–1928 errichteten Gebäude des Vereins bildender Künstler Mánes zeigt. Es gelang Novotný jedoch weiterhin, die Prinzipien der progressiven Avantgarde mit den konservativen Ansprüchen der Bauherren zu vereinigen – dies zeigt sich in der Villa von Cyril Baroň von Dobenin in Náchod oder im Palais von Rudolf Steinský-Sehnoutka in Hradec Králove, der mit Sandsteintafeln verkleidet ist und dadurch an norditalienische Palaisbauten erinnert.
LZL
Anmerkungen
[1] Otakar Novotný, Vybrané stati o architektuře, interiéru, užitém umění a uměleckém průmyslu z let 1909–1954, Praha 1984.
čp. (číslo popisné) – Konskriptionsnummer, ein während der Monarchie eingeführtes System der Nummerierung von Gebäuden (im Unterschied zur Orientierungs- bzw. Hausnummer)
1904
Vila von Jan Otta in Zbraslav, Žitavského čp. 500
1907
Villa von JUDr. Otakar Cmunt in Čimelice, čp. 113
1908–1910
Villa Lex in Rakovník
1909–1911
Kauf- und Wohnhaus des Verlegers Jan Štenc (Štencův dům) in Praze, Salvátorská čp. 8
1911–1914
Sokol-Turnhalle in Holice
1911–1912
Wohnhaus mit Ordination von Dr. Čeněk Zemánek in Holicích, Náměstí T.G.Masaryka čp. 24
1912–1913
Villa Sequens in Prag, Vnislavova čp. 4
1912
Villa von J. Váňa in Benešov
1912
Sokol-Turnhalle in Rakovník
1919–1921
Genossenschafts-Wohnhäuser für Leherer in Prag, ul. Elišky Krásnohorské čp. 10–14 und Bílkova čp. 5
1920
Wohnhäuser der Genossenschaft Domovina in Znojmo, Jarošova čp. 18–26
1922
Fassade der Sparkasse in Benešov
1923
Genossenschafts-Wohnhaus für Leherer in Prag, Kamenická 35
1924–1925
Villa Čerych, Česká Skalice
1927
Leucht- und Wasserturm am Flughafen Kbely bei Prag
1926–1929
Kantine und Schlafräume in Černožice nad Labem, Revoluční čp. 84
1927
Gemeindehaus, Černožice
1927–1930
Gebäude für den Verein bildender Künstler Mánes in Prag
1928
Staatliche Auswanderungszentrale in Prag-Vysočany, Pod Balkánem čp. 599
1928
Postamt in Louny
1929
Haus von Cyril Bartoň von Dobenin (Bartoňův dům) in Náchod, Kamenice čp. 105
1931–1932
Villa mit Atelier des Malers Václav Špála in Prag, Na Dračkách 5
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Jaromír Pečírka, Otakar Novotný, Volné směry, 1929-1930, roč. XXVII, s. 194–200
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Otakar Novotný, O architektuře, Praha 1959
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Otakar Novotný, Vybrané stati o architektuře, interiéru, užitém umění a uměleckém průmyslu z let 1909–1954, Praha 1984
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Alexandr Skalický, Otakar Novotný, casa Bartoň a Náchod, Firenze 1999
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Pavel Vlček (ed.), Encyklopedie architektů, stavitelů, zedníků a kameníků v Čechách, Praha 2004, s. 454–455