Der talentierte Osvald Polívka studierte an der tschechischen und deutschen Technischen Universität bei Josef Zítek und Achille Wolf, den er später beim Gebäude der Hypothekenbank am Senovážné náměstí in Prag unterstützte. Unter dem Einfluss von Zítek wandte sich Polívka vor allem den markanten Ausdrucksmitteln der sog. Tschechischen Renaissance zu. Seine erste bedeutende Realisierung in diesem Stil ist die Prager Städtische Sparkasse aus den Jahren 1892–1894, die er zusammen mit Antonín Wiehl plante. Dieser Bau brachte den Durchbruch für Polívka und bedeutete den Beginn seiner Karriere im Bereich repräsentativer Palais für unterschiedliche Firmen – Banken, Sparkassen und Versicherungen – sowie weiterer öffentlicher Bauten. In Prag war er später auch für die Realisierung der Landesbank des Königreichs Böhmen (1897) und der Gewerbebank (1901), beide an der Adresse Na Příkopě zu finden, zuständig. Die Städtische Versicherung auf dem Altstädter Ring aus dem Jahr 1900 zeigt eine andere Seite von Polívkas Werk, hier wurde er zum Vertreter des Prager Barocks. Dies hat vor allem mit der vollkommenen Kenntnis historischer Formenlehren und Bemühungen für einen dynamischeren Ausdruck zu tun. Wenige Zeit später äußerte der Architekt auch Interesse für den Jugendstil. Ein Beispiel für seine Bemühungen, sich den zeitgenössischen modernen Trends zumindest zu nähern, sind der Komplex des Prager Neuen Rathauses auf dem Mariánské náměstí, dessen finale Form aus dem Jahr 1908 stammt, das Gebäude der Versicherung Praha in der Národní třída oder der Wasserturm in der mittelböhmischen Stadt Nymburk.
Bei dem Projekt in Hradec Králové, mit dem Polívka seinen guten Ruf in konservativen Kreisen bestätigte, handelt es sich um das Palais der Reservekreditanstalt auf dem Velké náměstí (heute befindet sich dort die Galerie für moderne Kunst). Die Bank kaufte die Baustelle vom Allgemeinen Kreditinstitut ab, benutzte jedoch nicht den Entwurf des Architekten Viktorín Šulc, der die Ausschreibung gewonnen hatte. Als neue Eigentümerin der Baustelle schrieb die Bank Anfang des Jahres 1911 einen Wettbewerb aus, für den die Architekten Jan Kotěra, Osvald Polívka und Oldřich Liska zur Teilnahme eingeladen wurden. Die Jury kürte Polívka zum Sieger, dessen Arbeit überraschenderweise der Vorzug gegenüber Kotěras empathisch komponiertem und zugleich innovativem Entwurf gegeben wurde. Ein solches Urteil lässt sich teilweise durch die pragmatische Vereinbarung der Vertreter der Bank mit der Zentralkommission für die Erhaltung künstlerischer und historischer Denkmäler in Wien erklären, die „über die stilistische Gestaltung des neuen Gebäudes der Reservekreditanstalt“ erzielt wurde (vlg. Ratibor XXVIII, 1911, Nr. 18, 29. 4., 9.). Nach einer früheren allgemeinen Kritik an den Entwürfen des Bankgebäudes für das Allgemeine Kreditinstitut und des gegenüberliegenden Špalek-Kaufhauses, welche die öffentliche Meinung besonders wegen ihrer Höhe irritierten, erhielt Polívkas Entwurf eines zurückhaltenden, modernistischen Gebäudes mit Hochparterre, dreistöckigem Basiskörper und einem um ein Stockwerk höheren Eckturm nun den Vorzug. Es gab keine lauten Proteste gegen diesen Entwurf, was die Stadt wahrscheinlich mit Erleichterung anerkannte. Das Portal an der Hauptfassade des Gebäudes ist mit zwei allegorischen Bronzestatuen geschmückt, die den Handel und die Ernte darstellen. Sie stammen von dem Bildhauer Ladislav Šaloun, der mit dem Architekten Polívka beispielsweise auch bei Bankgebäuden in Prag oder Triest zusammenarbeitete. Polívka war allgemein bekannt für sein Interesse an der Zusammenarbeit mit anderen bildenden Künstlern, bedeutenden Bildhauern und Malern.
Der „Sieg“ über Jan Kotěra im negativen Sinne wurde von den Mitgliedern des Kunstvereins SVU Mánes bestätigt, zu dem neben dem Architekten Kotěra, dem Vater der tschechischen Moderne, auch die Architekten Josef Gočár, Pavel Janák, Otakar Novotný und František Roith gehörten. Sie widersetzten sich entschieden den regressiven oder nur scheinbar fortschrittlichen Tendenzen in der Baukunst, die sich zu dieser Zeit oft in zunehmendem Pragmatismus, aber auch unverhüllter Emanzipation manifestierten. Zu jener Zeit haben mehrere exponierte Neubauten eine starke Aversion gegen fortschrittliche Künstler hervorgerufen, vor allem das Gemeindehaus in Prag, ein Projekt von Osvald Polívka und Antonín Balšánek, fertiggestellt 1912. Vielen zeitgenössischen Stimmen aus dem Umkreis des Kunstvereins zufolge habe dieses Objekt im wahrsten Sinne des Wortes die schwärzesten Vorstellungen entarteter Varianten der Moderne bzw. Versuche, diese zu imitieren, verkörpert. Polívka behielt seine konservative Solidität auch in den 1920er Jahren; seine Gebäude aus dieser Zeit sind durch einen strengen klassizistischen Ausdruck gekennzeichnet.
MP
1892–1894
Prager Städtische Sparkasse, Praha, Rytířská 536 (zus, mit A. Wiehl)
1894–1896
Länderbank, Praha, Na Příkopě 858
1898
Palais der Prager Städtischen Versicherung, Praha, Staroměstské nám. 932
1903
Wasserturm, Nymburk, Vodárenská bzw. Jízdecká ul.
1905
Novák-Kaufhaus, Praha, Vodičkova 699
1906–1908
Topič-Verlag, Praha, Národní třída 1010
1906–1908
Versicherung Praha, Praha, Národní třída 1011
1908–1910
Wirtschaftsobjekte des Schlosses Karlova Koruna, Chlumec nad Cidlinou
1911
Neues Rathaus, Praha, Mariánské nám. 2
1912
Gemeindehaus, Praha, nám. Republiky (zus. mit A. Balšánek)
1912
Filiale der Gewerbebank, Triest, Via Mazzini 122
1914–1916
Tschechische Bank, Praha, Václavské nám. 791 (zus. mit J. Sakař)
1924–1925
Haus der Tschechischen Handelsgesellschaft, Ústí nad Labem, Hrnčířská 20
1928–1930
Palais Dunaj, Praha, Národní třída 138 (s A. Foehr)
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Pavel Vlček (ed.), Encyklopedie architektů, stavitelů, zedníků a kameníků v Čechách, Praha 2004, s. 513–514
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Zdeněk Lukeš; Rudolf Pošva, Neznámý Osvald Polívka. Pokus o rehabilitaci díla pražského architekta přelomu století, Staletá Praha, 1988, č. XVIII, s. 193–207
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Marie Benešová, Česká architektura v proměnách dvou století, Praha 1984, s. 222–223
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Rostislav Švácha, Od moderny k funkcionalismu, Praha 1994