Jan Kotěra

Biografie

Der Architekt Jan Kotěra wird als „Begründer der modernen tschechischen Architektur“ bezeichnet. Man kann sich fragen, warum – doch das Wichtige ist, dass der Gründer-Mythos des Architekten von der Generation seiner Schüler und der Avantgarde der Zwischenkriegszeit, die sein Vermächtnis bekennt, angenommen wurde. Jaromír Krejcar schrieb in Kotěras Nachruf: „Das Geheimnis seiner Schule und ihrer Vitalität ist, dass sie niemals Epigonen hervorgebracht hat, weder freiwillig, noch erzwungen [...] Kotěras Name steht jetzt wieder auf dem Schild der jüngsten Künstlergeneration.“[1]

Jan Kotěra wurde in Brünn geboren und besuchte eine Fachschule für Bauingenieurswesen in Pilsen. Nach seinem Abschluss lernte er Josef Mladota von Solopisk kennen und entwarf die Renovierung seines Schlosses in Červená Lhota bei Sedlčany. Mladota bot dem Architekten später während seines Studiums in Wien finanzielle Unterstützung: Kotěra studierte von 1894 bis 1897 in Otto Wagners Atelier an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Dort traf er auch wichtige Vertreter der Wiener Secession - Josef Maria Olbrich, Koloman Moser, Josef Hoffmann (später Vertreter der Wiener Werkstätte), Jože Plečnik aus Slowenien und sein Landsmann Leopold Bauer. Obwohl Kotěra Wagner sehr schätzte, musste er seine Prinzipien der universellen modernen Architektur bald aufgeben, wie viele andere Absolventen der Schule. Der Architekturhistoriker Jindřich Vybíral schrieb dazu: „Wagner hat jungen Künstlern beigebracht, sehr zurückhaltend zu sein, wenn es darum geht, mit künstlerischen Mitteln nationale oder lokale Originalität auszudrücken, [weil] er sich für die universelle Sprache moderner Architektur aussprach, die der gemeinsamen westlichen Kultur und den allgemein geteilten, technischen Errungenschaften entsprach.“[2]

Kotěras Diplomprojekt der idealen klassizistischen Stadt Calais, das mit Wagners Raster einer Universalstadt kontrastiert und auf dem Konzept eines klassizistischen Sterns basiert, wurde mit dem Prix de Rome für Bildende Künstler ausgezeichnet. 1897 ging Kotěra nach Italien, um klassische Architektur zu studieren. Als er nach Prag zurückkehrte, arbeitete er 1898 zunächst vorübergehend und dann nach Friedrich Ohmann als ständiger Professor für Architektur. Zwischen 1902 und 1905 entwarf Kotěra unter dem Einfluss der Volkskultur, die eine wichtige Inspirationsquelle für die Jubiläums-Ethnographieausstellung von 1895 darstellte, eine Reihe von Gebäuden mit Variationen von Volksornamenten und traditionellen Materialien. Die Projekte umfassten das Wochenendhaus von Jan und Božena Herben, die Villa von František Trmal, die Villa von František Fröhlich und das Nationalhaus in Prostějov (1905–1907). Zur gleichen Zeit entwickelte Kotěra eine Art Metropolenhaus mit floralen Jugendstildekorationen wie das Haus von František und Lev Peterka auf dem Prager Wenzelsplatz (1899–1900) und das Bezirkshaus in Hradec Králové (1901–1904). Um 1908 wandte sich Kotěra der Moderne zu. Er entwarf Sozialarbeiterwohnungen für die Eisenbahnkolonie in Louny und sein eigenes großzügig angelegtes Haus in der Hradešínská-Straße im Prager Stadtviertel Vinohrady, das weder Jugendstildekorationen noch nationale Renaissanceelemente aufwies. Das Äußere des massiven Treppenturms war als leerer, abstrakter Raum mit Lisenen aus hellem Sichtmauerwerk und grob verputzter Fassade gestaltet. Der Turm grenzte an eine kubische Form mit einem Zeltdach, dessen innere Anordnung auf dem aktuellen Kenntnisstand der Rationalisierung des Wohnraums beruhte. Kotěra richtete in seiner Villa ein Architekturbüro und eine Architekturschule ein, die er 1910 an der Akademie der bildenden Künste gegründet hatte.

Zu dieser Zeit begann Kotěra auch an dem Projekt eines Museumsgebäudes in Hradec Králové zu arbeiten, das als größtes Beispiel der Synthese von Kotěras Prinzipien gilt: moderner Historismus einerseits und andererseits Bestrebungen, den architektonischen Raum zu verfeinern und zu abstrahieren. Zwischen 1910 und 1914 entwarf Kotěra öffentliche Gebäude und Wohngebäude. Ihre Funktion und daraus resultierende Strukturen sollten nach seiner Theorie „Raumstrukturen“ sein, in denen architektonische Prinzipien von Gottfried Semper, Karl Bötticher und Otto Wagner vereinfacht und zusammengefasst werden [3]. Kotěras Sachlichkeit zeigt sich in der Gestaltung des Laicher-Hauses in Prag-Vinohrady und der Villa von Vilém Charvát in Vysoké Mýto, jedoch hat er seinen monumentalen Großstadtstil nie aufgegeben, davon zeugt das vom Kubismus inspirierte Gebäude des Allgemeinen Pensionsinstituts in Prag. Er mochte auch den modernen Klassizismus, der vor allem in den Entwürfen für seine jüdische Kundschaft Verwendung fand: die Duplex-Villa für die Brüder Mandelík in Ratboř bei Kolín und in der Villa Lemberg-Gombrich in Wien.

Während des Ersten Weltkrieges war Kotěra vom Militärdienst befreit, weil er als k. u. k. Baurat für den Staat tätig war und sich seine psychische Erkrankung verschlimmerte.

Während des Krieges entwarf er vor allem Bestattungs- und Gedenkarchitektur, woran er bereits seit Beginn seiner Karriere gelegentlich arbeitete. Nach Kriegsende wurde ihm von tschechischer Seite die Zusammenarbeit mit dem Österreich-Ungarn vorgeworfen, doch durfte er an mehreren prestigeträchtigen Projekten teilnehmen: das Projekt der Juristischen Fakultät wurde wiederaufgenommen, an dem Kotěra seit 1908 gearbeitet hatte und dessen Bau der konservative Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este verhinderte [4]. Des Weiteren entwarf Kotěra den Regierungskomplex im Prager Stadtviertel Petrská čtvrť, den Sitz der Ringhoffer-Werke in Prag-Smíchov, das Gemeindehaus in Hradec Králové und den Hauptsitz der Bergbaugesellschaft Vítkovice in Prag.

Realisiert wurden nur die letzten beiden Projekte. Kotěra war damals, ähnlich wie die Wiener Architekten zu jener Zeit, monumentalen Formen und den Formen des modernen Historismus stärker zugeneigt. Der Architekt starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren an einer Lungenerkrankung. Gleich am Tag darauf begann der Kunsthistoriker Zdeněk Wirth mit dem Aufbau eines Gründungsmythos, als er im Nachruf schrieb: „[Kotěra] war der große Begründer der tschechischen Architektur der Moderne – aus eigenem Willen und dank des günstigen Schicksals“. [5]

LZL

Anmerkungen

[1] Jaromír Krejcar, Jan Kotěra, Stavba, Jg. 1923–1924, Bd. II, S. 4–7

[2] Jindřich Vybíral, Regionalismus jako umělecký program a tržní strategie. Josef Hoffmann a Leopold Bauer na severní Moravě a ve Slezsku, Bulletin Moravské galerie v Brně, Jg. 2005, Nr. 51, S. 97–102, zit. S. 98

[3] Kotěra formulierte seine theoretischen Ausganspunkte in einem frühen, und seinem nahezu einigen Artikel in der Zeitschrift Volné směry, dessen Redakteur er damals war. Jan Kotěra, O novém umění, Volné směry, Jg. 1900, IV., Nr. 4, S. 189–195

[4] Sie wurde erst nach Kotěars Tod, in den Jahren 1926–1930, durch Ladislav Macoň, dem engsten Mitarbeiter des Architekten, fertiggestellt.

[5] Zdeněk Wirth, Jan Kotěra, České slovo, Jg. 1923, Nr. 18. 4. 1923, nicht paginiert

Auswahl weiterer Werke

čp. (číslo popisné) – Konskriptionsnummer, ein während der Monarchie eingeführtes System der Nummerierung von Gebäuden (im Unterschied zur Orientierungs- bzw. Hausnummer)

1894-1896
Umbau des Schlosses Červený Hrádek für Jan Mladota von Solopisk

1898
Gruft der Familie Mladota von Solopisk, Kosova Hora

1899–1900
Fassade des Hauses Peterka in Prag, Václavské náměstí 12

1902
Villa von Jan Herben, Hostišov čp. 11

1902
Villa von Karel a Naděžda Kramář „Barbo Kristo“ auf der Halbinsel Krim

1902–1903
Villa Fröhlich in Černošice, Střední ul. čp. 360

1902–1903
Villa Mácha in Bechyně, Libušina ul. čp. 188

1902–1903
Villa Trmal in Prag-Strašnice, Vilová ul. čp. 11

1903–1905
Pumpstation der Wasserwerke Vršovice in Prag-Braník, Modřanská ul. čp. 229

1904–1907
Villa des Bildhauers Stanislav Sucharda in Prag, ul. Slavíčkova čp. 248

1905–1906
Villa von František Tonder in Sankt Gilgen, Lienbachweg 146

1905–1907
Nationalhaus (Národní dům) in Prostějově, Vojáčkovo náměstí čp. 218

1906–1907
Wasserwerk im Prager Stadtteil Vršovice in der Siedlung Zelená Liška (Grüner Fuchs), Baarova ul. čp. 365

1909–1913
Städtisches Museum in Hradec Králové, Eliščino nábř. čp. 465

1907
Villa Kraus in Prag, Sibiřské nám. čp. 208

1907–1908
Villa Götz in Chrustenice, čp. 52

1908–1910
Villa Mark, Holoubkova čp. 123

1908-1909
Verlags- und Wohnhaus der Familie Laichter in Prag-Vinohrady, Chopinova čp. 1543

1908–1909
Eigene Villa in Prag-Vinohrady, Hradešínská ul. čp. 1542

1908–1910
Villa von Emil Kratochvíl in Černošice bei Prag, čp. 282

1909
Wasserturm in Třeboň, ul. Na Kopečku

1909–1911
Villa von Vilém Charvát in Vysoké Mýto, Rokycanova ul. čp. 247

1908–1911
Eisenbahnkolonie in Louny

1910–1913
Umbau der Villa Bianca in Prag-Bubeneč, Pod Kaštany čp. 49

1910–1911
Zweifamilienhaus von Josef Groh und Otokar Borůvka, Mickiewiczova čp. 239 a 240

1911–1913
Doppelvilla, sog. „neues Schloss“ der Brüder bratří Mandelík, Ratboř čp. 40

1911–1913
Verlagshaus Urbánek, sog. Mozarteum v Praze, Jungmannova čp. 748

1912–1915
Umbau des alten Schlosses in Ratboř čp. 1

1912–1914
Allgemeines Pensionsinstitut in Prag, Rašínovo nábř. čp. 390 (zus. mit Josef Zasch, Autor der Innenausstattung)

1913–1915
Villa Lemberg-Gombrich in Wien, Grinzinger Allee 50–52

1921–1924
Gebäude der Bergbaugesellschaft in Prag, ul. Politických vězňů čp. 1419

1926–1930
Juristische Fakultät der Karlsuniversität Prag, nám. Curieových čp. 901 (zus. mit Ladislav Machoň)

Literatur

[b. a.], Otázky dne, Socialistické listy, roč. 1918, č. 40, vydání 1. 1. 1918, nepag.
[b. a.], Návrhy a provedené stavby Jana Kotěry od roku 1900–1921, Styl, 1921–1922, roč. II. (VII.), s. 94–95
Antonín Matějček, Jan Kotěra, Národní listy, 1923, roč. 63, č. 18. 4. 1923, ranní vydání, s. 1–2
Jaroslav B. Svrček, Architekt Jan Kotěra, Host, 1923, roč. II., s. 314–318
Zdeněk Wirth, Jan Kotěra, České slovo, 1923, č. 18. 4. 1923, nepag.
[b. a.] Jan Kotěra, Volné směry, roč. 1923–1924, roč. XXII., s. 81–82
Jaromír Krejcar, Jan Kotěra, Stavba, roč. 1923–1924, svazek II., s. 4–7
Zdeněk Wirth, Jan Kotěra, Styl, 1925–1926, roč. VI. (XI.), s. 147
[b. a.], Z dopisů Jana Kotěry svému příteli R. G. ve Vídni, Stavitel, roč. 1926, roč. VI., č. 8–9, s. 63–65
Josef Šusta, Z italských dopisů Jana Kotěry se vzpomínkovým úvodem Jos. Šusty, Umění, Sborník pro českou výtvarnou práci, roč. 1931, roč. IV., s. 113–128, 269–275, 313–316, 356–358
Jan Kotěra, Data k projektu pro Právnickou a Theologickou fakultu české university, Styl, roč. 1931, č. 9–10, s. 93.
Karel Polívka, Jan Kotěra, Časopis českých architektů, 1932, 17. 5. 1932, č. 4–5, s. 64–65
Zdeněk Wirth, Jan Kotěra – kreslíř, Umění, roč. 1943, roč. XV, s. 253–270
Rostislav Švácha, Poznámky ke Kotěrovu muzeu, Umění, 1986, roč. 34, s. 171–179
Rostislav Švácha, Lemberger-Gombrich villa in Vienna by Jan Kotěra, Umění, roč. 1994, roč. XLII, č. 5–6, s. 388–392
Vladimír Šlapeta et al., Jan Kotěra: 1871–1923: Zakladatel moderní české architektury, Praha 2001
Martin Strakoš, Jan Kotěra – protagonista moderny a zakladatelského mýtu, Stavba, roč. 2002, roč. č. 1, s. 3–4
Josef Chochol, Nekrolog k úmrtí Jana Kotěry, Architekt, roč. 2003, č. 12, s. 75–80
Klára Zubíková; Ladislav Jouza, Rodina Mandelíků a architekt Jan Kotěra, in: Kol. aut. Židé v Kolíně a okolí, Kolín 2005
Hana Hermanová et al., Rodinné domy Jana Kotěry, Praha 2011
[Richard Biegel], Chrám vzdělání a vědy, in: Kol.aut., Cesty filosofie a práva 1882–1912, Praha 2012
Jakub Potůček, Kotěra: Po stopách moderny, Hradec Králové 2013
Kol. aut., Jan Kotěra: Jeho učitelé, doba a žáci: Sborník textů Mezinárodní konference k výstavě Kotěra. Po stopách moderny, Hradec Králové 2013
Ladislav Zikmund-Lender; Jiří Zikmund (eds.), Budova muzea v Hradci Králové: 1909–1913: Jan Kotěra, Hradec Králové 2013
Ladislav Zikmund-Lender, Jan Kotěra v Hradci / Jan Kotěra in Hradec, Hradec Králové 2016

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